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Ein Leben, das für drei gereicht hätte

Jan. 05, 2024


Heute, am 5. Januar, hätte Adane Geburtstagsglückwünsche entgegengenommen. Sowohl er als auch seine Gratulanten hätten gewusst, dass dieser Tag nicht sein Geburtstag war. Denn niemand weiß, wann er geboren wurde. Der Geburtstag ist einmal so festgelegt worden, in dem Internat der norwegischen Nonnen, in das er als Kind gesteckt wurde. Irgendwann hatte man dort die Kinder durchgezählt und die Geburtstage auf den entsprechenden Tag des Jahres festgelegt. Adane, so hat er es einmal erzählt, war einfach die Nummer fünf in der Reihe. 


Vielleicht ist es so oder ähnlich gewesen. Vielleicht hat er diese Geschichte aber auch nur so wiedergegeben, weil sie sich gut und einleuchtend anhört. Er war ein begnadeter Geschichtenerzähler und er hat die Geschichte(n) seines Lebens wieder und wieder erzählt, wenn er mit Touristen durch sein Heimatland fuhr und er sie auf stundenlangen Busfahrten bei Laune halten wollte. Sicher hat er hier und da an den Geschichten gefeilt, Szenen seines Lebens ein wenig verändert oder zugespitzt, Dinge weggelassen, die ihm unwichtig schienen oder in der Erinnerung unangenehm waren. Tun wir das nicht alle?


Mir hat er die Langfassung seines Lebens erzählt. Ich besitze etwa fünfundzwanzig Stunden Tonaufnahmen, die aus dem Jahr 2018 stammen. Im Februar jenes Jahres war ich eine der Touristinnen im Bus und fragte ihn schließlich, ob ich einen Roman über sein Leben schreiben dürfe.  Alle in der Reisegruppe waren fasziniert von seinem Leben, doch für mich kam ein weiterer Aspekt hinzu: Wir teilten ein Stück deutscher Vergangenheit. Doch während ich den allumfassenden gesellschaftlichen Umbruch nur einmal erlebt hatte, hatte er diese Erfahrung mehrfach machen müssen. Offenbar war er gut damit klargekommen, denn er war heiter und optimistisch, während meine ostdeutschen Landsleute zum Teil schon von dem einen Umbruch überfordert schienen. Ich wollte wissen: Wie hatte er das gemacht? Nachdem er meinem Vorschlag zustimmte, fuhr ich im Juni desselben Jahres noch einmal nach Äthiopien, um die Langversion eines Lebens zu hören, das für mindestens drei gereicht hätte.


Etwa zwei Jahre habe ich gebraucht, um seine Geschichte in einen Roman zu verwandeln. „Ich habe dir zwei Jahre meines Lebens geschenkt“, habe ich bei späteren Telefonaten manchmal zu ihm gesagt. Er lachte dann und sagte, er habe sich den Roman ausgedruckt und lese gelegentlich darin. Das reiche ihm. Er teilte meine Frustration darüber nicht, dass es mir in den drei Jahren nach Vollendung des Romans nicht gelang, einen Verlag für seine Geschichte zu interessieren. Auch als ich versprach, den Roman 2024 endlich selbst herauszubringen, betonte er, dass es ihm nicht mehr darauf ankäme. Er war glücklich darüber, dass die Geschichte geschrieben war und ich ihn, wie er mir gestand, etwas besser dargestellt hatte, als er sich selbst empfand.

 

Zwei Jahre lang habe ich seinen Lebensweg nachgezeichnet. Von der Savanne, wo er geboren wurde und seine ersten Lebensjahre verbrachte, über das Internat der norwegischen Nonnen, das ganz in der Nähe seines Heimatdorfes lag, auch wenn ihm das damals nicht bewusst war. Für ihn war es gewesen, als sei er aus seiner eigenen Welt verstoßen worden und in eine vollkommen andere geraten, ohne eigene Entscheidungsmöglichkeit. Sein Ehrgeiz brachte ihn zum Medizinstudium nach Addis Abeba und in die Wirren der Machtkämpfe nach der Absetzung Haile Selassies. Er arrangierte sich – nach einem Gefängnisaufenthalt nicht ganz freiwillig – mit den Machthabern um Haile Mariam Mengistu. Am Ende von Mengistus Herrschaft gut eineinhalb Jahrzehnte später kam er wieder ins Gefängnis. Dazwischen lagen: eine Karriere als Funktionär, ein Studium und eine Promotion in der DDR und, als diese sich auflöste, die Rückkehr nach Äthiopien als stellvertretender Kulturminister. Auch die äthiopische Variante des Sozialismus hielt sich nicht und es war ebenso zynisch wie folgerichtig, dass er wieder im Gefängnis landete. Nach der Entlassung schaffte er es zurück nach Deutschland und begann – wieder einmal – ein neues Leben. Er heiratete und bekam zwei Kinder. Wechselte ins Baufach, lernte sämtliche Baugewerke so gut, dass er selbst zum Ausbilder wurde. Nach einigen Jahren wagte er wieder, sein Heimatland zu besuchen und entschied sich schließlich sogar, ganz zurückzukehren. Er sah dort einen Auftrag für sich: Der nächsten Generation in seiner Familie Bildung ermöglichen. Das, so sagte er manchmal zu mir, sei das letzte, was er in seinem Leben noch erreichen wolle: Dass jedes seiner dreizehn Geschwister ein Kind mit einem Schulabschluss in der Familie hat. Als er diesen Auftrag für sich annahm, ahnte er nicht, wie schwer es werden würde. Einmal habe ich ihn gefragt, ob er manchmal bedauern würde, zurückgekehrt zu sein, denn in Deutschland hätte er doch ein bequemeres Leben haben können. Er verstand die Frage nicht. „Dies ist meine Heimat.“


Wir haben oft telefoniert. Bis Ende 2020 wegen des Buches. Danach, weil wir Freunde geworden waren. Ich wäre auch gern noch einmal in seine Heimat gereist, um ihn zu besuchen. Für Ende 2020 war der Flug bereits gebucht, als in Äthiopien wieder ein Bürgerkrieg ausbrach. Ich stornierte den Flug. und wir überarbeiteten das Buch kapitelweise telefonisch. Adane hatte Zeit, denn er hatte keine Arbeit. Die Pandemie war eine Katastrophe für den Tourismus gewesen, der Bürgerkrieg verschlimmerte die Lage zusätzlich und hat sich auch nach dem Waffenstillstand vom Dezember 2022 nicht entscheidend verbessert. Wenn ich ihn fragte, wann ich ihn besuchen könnte, vertröstete er mich immer wieder. Er wollte mich keiner Gefahr aussetzen.


Adanes letzte Jahre waren von der Unsicherheit in Äthiopien geprägt. Ich beobachtete die Wandlung des Landes aus der Ferne. Bei meinem Besuch 2018 hatte hoffnungsvolle Aufbruchstimmung geherrscht: Abiy Ahmed schloss Frieden mit Eritrea und stieß weitere Reformen an. Er bekam dafür 2019 den Friedensnobelpreis und hielt bei der Preisverleihung eine berührende Rede gegen den Krieg. Doch offensichtlich hatte er keine nachhaltigen Antworten auf die Konflikte im eigenen Land, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich jetzt zuspitzten. Nicht nur einmal schlich sich langes Schweigen in meine Telefonate mit Adane, wenn er berichtete: Wie die Soldaten, die für die die Regierung Lebensmittel verteilten, einen Teil des Getreides für sich selbst beiseiteschafften. Wie er darunter litt, dass die Kinder nicht genug zu essen hatten. Wie er in einem Dorf nach einem Massaker mit über hundert Toten aufräumte. Wenn ich meine Sprache wiederfand und ihn fragte, ob ich etwas für ihn tun könne, antwortete er: „Du kannst nichts tun und du musst auch nichts tun. Es reicht, wenn ich mit dir darüber reden kann. Das tut mir gut.“


Er hielt sich und die Kinder über Wasser: Mit Tätigkeiten auf dem Bau, die allerdings weniger Einkommensquelle als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren. Er gestand mir einmal, seine größte Angst sei, die Kinder zurück zu ihren Eltern in die Savanne bringen zu müssen, weil er sie nicht mehr versorgen könne. „Wenn ich das machen muss, gehe ich danach irgendwohin zum Sterben.“ Das Sterben spielte immer häufiger eine Rolle in unseren Gesprächen. „Um mich sorge ich mich nicht. Ich habe mein Leben gehabt. Aber die Kinder …“


Irgendwie ging es immer weiter. Mit Spenden aus Deutschland und von Nachbarn, von denen er sehr geschätzt wurde. Einmal brachten sie ihm zum Beispiel einen Sack Getreide, mit dem er die Kinder und sich für eine weitere Woche durchbrachte. Den Kindern im Ort sagten sie, sie sollten werden wie Adane – so erzählte es mir eine gemeinsame Bekannte, die ihm zuletzt noch häufig begegnet war. Adane war klug, warmherzig und großzügig.


Zuletzt betrieb er eine Schreinerei. Für die hatten ebenfalls Freunde gespendet, und er war glücklich, arbeiten zu können. Er stellte Frauen ein, die oft verantwortungsbewusster waren als Männer, wissbegieriger, geschickter. So brachte er nicht nur „seine Kinder“ durch, sondern auch die der Frauen. Doch auch der Betrieb der Schreinerei war zuletzt immer schwieriger geworden, es gibt in Äthiopien kaum noch Material, keine Nägel, keine Schrauben, keinen Leim. Und keine Vorschüsse mehr, bei der fragilen Situation im Land war kein Auftraggeber sicher, ob die Arbeit fertiggestellt werden würde. Also kaufte Adane Holz auf eigenes Risiko. Irgendwie ging es weiter.  


Inzwischen schlossen einige „seiner Kinder“ eine Ausbildung oder ein Studium ab und verdienten selbst Geld. Sie unterstützten ihn und die Kinder, die noch keinen Abschluss haben. Er hätte noch drei, vier Jahre gebraucht, um sein Ziel zu erreichen.

Es war ihm nicht vergönnt. Adane starb am 1. Dezember 2023, nachdem er sich am Morgen schlecht gefühlt hatte und ein Krankenhaus aufsuchte, in dem man nur noch zu hohen Puls und Blutdruck feststellen, aber nichts mehr für ihn tun konnte. Vielleicht war zuletzt doch alles zu viel für ihn gewesen.


Sein Sohn Yitawok schreibt mir, dass er versuchen will, das Werk seines Vaters zu vollenden und auch den letzten der Kinder zu einem Schulabschluss zu verhelfen. Ich hoffe sehr, dass es ihm gelingt und will ihn dabei begleiten.


2018, in der hoffnungsvollen Zeit, als Adane und ich in Dire Dawa unsere langen Gespräche führten, hatten wir ein allabendliches Ritual. Nach dem Abendessen, das wir meist in der Kneipe eines Freundes zu uns nahmen, fuhren wir mit einem Tuk-Tuk durch die dunkle Stadt ins Hotel und tranken dort als Absacker einen Gin. Ich werde in meinem Leben nie wieder einen Gin trinken, ohne mich an den unglaublich weichen Geschmack äthiopischen Gins zu erinnern. Ich werde nie wieder Gin trinken, ohne mich daran zu erinnern, dass wir am Telefon oft darüber sprachen, irgendwann wieder zusammen Gin zu trinken. Ich werde nie wieder Gin trinken können, ohne an Adane zu denken und zu spüren, wie sehr er fehlt. Als jemand, der aus zwei Welten berichten und zwischen ihnen vermitteln konnte. Und als Freund.


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