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Sommerferien auf äthiopisch - Teil 1

Nov. 12, 2021

Ende Juli ruft mich mein Freund Adane aus Äthiopien an. An seiner Stimme höre ich, wie stolz er ist: Alle seine Kinder haben das vergangene Schuljahr mit besten Zeugnissen abgeschlossen.

Zu Adane und seinen Kindern muss man wissen, dass sie erstens nicht seine leiblichen Kinder und zweitens auch keine Kinder mehr sind. Er ist Mitte sechzig und wurde als etwa Fünfjähriger von seiner Familie in eine Missionsschule gegeben. Das hat sein Leben nachhaltig bestimmt, ihn zum Studium in die DDR und später für einen anderen Berufs- und Lebensweg in die BRD geführt, die beiden deutschen Phasen unterbrochen von einem kurzen Intermezzo als stellvertretender Kulturminister Äthiopiens. Und auch wenn er mit seinem Schicksal nicht immer einverstanden war, hat seine eigene Geschichte ihn gelehrt, dass Bildung der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben ist. Deshalb hat er, als er vor etwa zwölf Jahren aus Deutschland nach Äthiopien zurückkehrte, aus den in der Savanne lebenden Familien seiner Geschwister das jeweils klügste Kind ausgesucht und ein Haus für sie alle gebaut. (Adane hat in Deutschland auch eine Ausbildung zum Maurer gemacht. Bauen kann er wie ein Deutscher.) In diesem Haus lebt Adane mit den Kindern und einer Haushälterin – was sich für Europäer vielleicht nach Luxus anhört, für Adane aber eine absolute Notwendigkeit ist, irgendjemand muss sich schließlich um die Kinder kümmern, wenn er arbeitet. Und außerdem ist es gut, wenn die Kindermit einer weiblichen Bezugsperson aufwachsen.  


„Im Grunde“, sagte ich einmal zu ihm, „hast du mit ihnen das gemacht, was die Nonnen mit dir gemacht haben.“

Nach einem kurzen Zögern sagte er damals: „Ja. Aber in nett.“


Jede der Familien wird eines Tages einen gebildeten Nachkommen haben, der eine Brücke zwischen traditioneller und moderner Lebensart darstellen wird. Inzwischen sind die Kinder – mehr Mädchen als Jungen übrigens, denn die zeigten bei der Auswahl die besten Anlagen – zwischen 16 und 22 Jahre alt und die ersten haben ein Studium angefangen. Adane biegt auf die Zielgerade seiner Lebensaufgabe ein. 


Im Lauf unseres Telefonats im Juli dämpft sich sein Stolz und macht Ratlosigkeit Platz. Lange Sommerferien stehen bevor. Bis November.

„Wieso sind die Sommerferien bei euch so lang?“, frage ich überrascht.

„Weil die Lehrer in den Krieg ziehen.“


Ich schweige und denke an Adanes Nachricht aus dem letzten November, die nur aus einem Wort bestand: Krieg! Geplant war eine kurze militärische Intervention in einer renitenten Provinz, inzwischen sind daraus acht Monate Bürgerkrieg geworden, der zunehmend unübersichtlich wird und die Stabilität im ganzen Land erschüttert, wie ich hauptsächlich aus internationalen Medien erfahre. Mit Adane spreche ich selten über diesen Krieg und bin immer wieder überrascht darüber, wie sehr er an einem normalen Leben für die Kinder festhält und sich weigert, dem Krieg eine zu große Macht über ihr Leben einzuräumen.


„Es gibt Gerüchte, dass im November die Schulgebühren massiv erhöht werden.“

„Aber es gibt doch gar keine Schulgebühren in Äthiopien?“

„Sie wurden vor zwei Jahren eingeführt. Bisher waren sie so gering, dass ich sie leicht bezahlen konnte. Da habe ich noch Geld verdient.“


Wieder schweige ich, denn es schmerzt mich, dass Adane seit eineinhalb Jahren nicht mehr seiner Arbeit als Guide nachgehen kann, bei der ich ihn kennengelernt habe. (Der wievielte Jobwechsel zu dieser Aufgabe führte, weiß ich nicht auf Anhieb, ich müsste jedenfalls sicher beide Hände zur Hilfe nehmen, um sie zu zählen.) Zuerst blieben die Touristen wegen Corona weg und als Adane vorsichtig optimistisch wieder über erste Reisebuchungen sprach, kam der Krieg. Und es ist nicht absehbar, wann sich daran etwas ändern wird. Spenden aus Deutschland und Jobs auf dem Bau in Äthiopien für rund zwei Euro am Tag (ja, am Tag) haben ihn bisher über Wasser gehalten.


„Jedenfalls habe ich den Kindern versprochen, dass sie die Ferien in der Savanne bei ihren Familien verbringen können. Aber wenn ich jetzt Geld für die Reise ausgebe, kann ich im November die Schulgebühr nicht mehr bezahlen. Das geht nicht.“

„Aber wenn die Kinder im Sommer bei ihren Familien sind, musst du sie nicht ernähren.“

„Ich kann sie aus unserem eigenen Garten ernähren, das ist nicht so teuer.“


Weil Adane nun nicht mehr mit Touristen unterwegs ist und nur selten auf Baustellen Arbeit hat, ist er unter die Gärtner gegangen. Begeistert hat er davon erzählt, was er alles im eigenen Garten erntet: Tomaten, Zucchini, Salat und Kartoffeln. Das ist auch bitter nötig, denn die Preise für Lebensmittel sind in den letzten Monaten massiv gestiegen. Daran ist der Krieg schuld, aber auch extreme Dürre, die den Osten Afrikas immer wieder heimsucht.  

Wir wägen die Optionen ab und am Ende verspreche ich ihm, im November 200 Euro Schulgebühr aufzutreiben, wenn es nicht anders geht. Die Kinder haben sich die Ferien verdient und wenn sie bei ihren Familien sind, kann Adane in dieser Zeit versuchen, sich auf Baustellen zu verdingen, um wenigstens etwas Geld zu verdienen.


***


Das nächste Mal höre ich von Adane, als die Kinder schon bei ihren Familien sind. Adane ist in Yabello, einer kleinen Stadt im Süden Äthiopiens, bei einer Schwester untergekommen und wartet darauf, zur Arbeitssuche nach Addis fahren zu können. Im Moment, sagt er, sind die Straßen nicht sicher, immer wieder gibt es Überfälle oder Massaker auf dem Weg in den Norden. Aber darüber will er mit mir nicht sprechen, sondern von den Kindern erzählen, die – wie erwähnt – keine Kinder mehr sind, sondern junge Erwachsene. Die jungen Frauen hätten ihn nämlich morgens angerufen, weil sie ihm etwas sagen wollten. Sie haben die letzten Tage viel mit ihren Geschwistern gesprochen, die traditionell in der Savanne leben. Adane wirft mir das Bild von heißen afrikanischen Nächten in den mäßigen Berliner Sommer, von großen Familienrunden am Feuer und jungen Menschen, die sich Geschichten über das Leben erzählen. Irgendwann in einem dieser Gespräche muss der Entschluss gereift sein, dass sie ihm, Adane, etwas Wichtiges zu sagen haben.


„Onkel“, hat Enat, eines der ältesten Mädchen, gesagt, „wir wollen uns bei dir bedanken. Dafür, dass wir nicht beschnitten sind. Und dafür, dass wir niemals Angst haben müssen, zwangsverheiratet zu werden. Danke dafür.“



Und ich – etwa achttausend Kilometer entfernt – meine zu sehen, wie Adane eine Träne der Rührung wegzwinkert.  

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