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Sommerferien auf äthiopisch - Teil 2

Nov. 16, 2021

Die nächste Nachricht von Adane erreicht mich im September via Messenger: Die Familie will weiter nach Kenia ziehen. Die Rebellen sind in Bule Hora, etwa 80 km entfernt.


So greift der Krieg noch weiter in den Alltag von Adane ein. Bislang hatte ich den Eindruck, dass er und die Kinder wenig betroffen waren, wenn man von der Lebensmittelknappheit und -verteuerung absieht und von der allgemeinen Unsicherheit über die Zukunft. Noch dazu hatte ich bislang vermutet oder gehofft, dass der Krieg nur im Norden stattfindet, in Tigray und den angrenzenden Provinzen. Meldungen über das Aufflammen der Gewalt im ganzen Land hatte ich nicht in mein Bewusstsein dringen lassen. Und natürlich hatte ich auch immer gedacht, Adane und den Kindern könne nichts passieren. So wie Unfälle auch nicht mir, sondern nur anderen geschehen. Nun also doch.


Ein Telefonat mit Adane bringt neue Informationen. Er sagt, die Rebellen morden und vergewaltigen. Es seien von der TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray) gekaufte Söldner, die das ganze Land destabilisieren sollen. Solche Informationen sind mit Vorsicht zu genießen, denn Adane sagt selbst, dass die Situation oft viel zu unübersichtlich für genaue Einschätzungen ist. Im Moment zählt nur: Alle jungfräulichen Mädchen müssen über die grüne Grenze nach Kenia in Sicherheit gebracht werden. Adane ist mit einem Bruder dabei, einen Minibus aufzutreiben. Für „seine“ Mädchen.

„Früher waren die Kinder es gewohnt, viele Kilometer zu Fuß zu gehen, das sind sie heute nicht mehr.“ Nein, das ist nicht die ewige Klage über die heutige Jugend, sondern eine Feststellung. Die anderen Mädchen der Familie werden die etwa 85 Kilometer zu Fuß gehen und vier Tage später die Verwandten in Kenia erreichen, die sie aufnehmen. Boranafamilien sind groß und ziehen von Ort zu Ort, die Grenzen waren für sie immer durchlässig im Dreiländereck Äthiopien, Kenia, Somalia.


Adanes Stimme klingt optimistisch, die Sorge liegt schon hinter ihm, jetzt geht es darum, eine Lösung zu finden. Tätig zu sein, macht optimistisch. Während ich rat- und hilflos frage, ob ich etwas für ihn und die Kinder tun kann.

„Du kannst nichts tun und du musst auch nichts tun. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden.“



Ich denke: Hoffentlich. Und begebe mich zurück in meine Rolle der Biografin. Ich habe über Adanes Leben einen Roman geschrieben und im Lauf der Arbeit haben wir uns angefreundet. Zwei Jahre habe ich damit zugebracht, Adanes Weg von der Savanne in die DDR, zurück nach Äthiopien, in die BRD und schließlich endgültig zurück in das Land seiner Geburt nachzuzeichnen und die Umstände, die zu dem jeweiligen Weg führten, zu schildern. Krieg war immer wieder Bestandteil seines Lebens und seiner Geschichte, doch als wir uns kennenlernten, fühlte es sich an, als seien diese Zeiten vorbei. Immerhin wurde dem heutigen Premierminister Abiy Ahmed 2019 der Friedensnobelpreis verliehen und er hielt zur Preisverleihung eine berührende Rede gegen Krieg. Ich habe den Roman über Adanes Leben im festen Glauben geschrieben, dass sie auch etwas über uns Europäer erzählt, dass es für uns wichtig ist, seine – exemplarische – Geschichte zu kennen. Jetzt ist der Roman abgeschlossen, doch Adanes Erzählungen aus seinem Leben und Alltag sollen noch immer gehört werden. Ich sehe mich in der Pflicht, Geschichten aus Afrika nach Europa zu bringen. Ja, manchmal treibe ich auch Geld auf, wenn etwa Salam, eines der älteren Mädchen, ein Stipendium für ein Studium in Riad bekommt, für ihre Flugkosten aber selbst aufkommen soll. Weil Adane wegen Corona monatelang nicht arbeiten konnte, habe ich Geld von meinen Freunden und Kollegen sowie Adanes ehemaligen Gästen gesammelt. Aber in der Hauptsache bin ich Schriftstellerin, die gemeinsam mit ihm afrikanisches Leben erzählt. Also wünsche ich der Mission „Ferien in Kenia“ Erfolg und bitte Adane, sich bei mir zu melden, wenn die Kinder in Sicherheit sind.

 

Es dauert fast zwei Wochen, ehe ich wieder von Adane höre. In der Savanne gibt es nicht überall Internet. Die Kinder haben morgens aus Kenia angerufen, wo sie von ihrem Verwandten aufgenommen worden sind. Vermutlich ist das ein Großonkel – ich habe es aufgegeben, die weitverzweigten Verwandtschaftsbeziehungen begreifen zu wollen, die sich schon in Adanes Fall ergeben, weil sein Vater – wie bei den Boranas üblich – drei Frauen hatte und mit jeder von ihnen etwa ein Dutzend Kinder, die sich alle als Geschwister verstehen, die Worte Halbbruder oder Halbschwester existieren in ihrer Sprache nicht. Wie könnte ich die Verzweigungen von zwei weiteren Generationen nachvollziehen? Dieser kenianische Großonkel also betreibt nicht nur Viehzucht, sondern auch Landwirtschaft. Doch immer wieder ist die Ernte bedroht, von Dürre, von Heuschrecken oder – in diesem Jahr – von Pavianen, die ihren Hunger auf seinen Feldern stillen. Die Kinder haben sich mit Freuden in die Rolle der Pavianvertreiber eingefunden und sagen zu Adane, sie erlebten die besten Ferien ihres Lebens. Niemand spricht von den Gründen, warum sie überhaupt nach Kenia gegangen sind.

„Aber irgendwann müsst ihr alle doch wieder nach Hause, denn die Kinder müssen doch wieder in die Schule.“

An Adanes Pause erkenne ich, dass er so weit noch nicht denkt. „Das wird klappen.“

Ich spüre, wie sehr ich diese Gelassenheit vermisse, die ich bei jeder meiner Afrikareisen neu lerne. Es kommt darauf an, sich um das Nächstliegende zu kümmern. Einen Schritt nach dem anderen zu tun und die Sorgen aufzuschieben, bis sie das Nächstliegende geworden sind. Dann finden sich Lösungen, davon ist Adane überzeugt. Und nicht nur er, die meisten Afrikaner, die ich kenne, überraschen mich immer wieder mit ihrem Grundoptimismus.  


So bleibe ich neugierig darauf, wie die Kinder zurück nach Hause kommen und wann sie wieder zur Schule gehen. Und beneide sie ein kleines bisschen um die Ferien in der afrikanischen Savanne, um die Gesellschaft von Pavianen und um die Geschichten am nächtlichen Feuer.


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