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Teju Cole und der Schuster von Ouakam

Jan. 10, 2022

Eines Morgens fragt Khady mich, ob ich sie begleiten möchte, sie hat ein paar Dinge zu erledigen und falls ich mich langweilen würde… Ich klappe meinen Laptop, der sowieso nur Arbeit für mich bereithält, zu und beschließe, die Gelegenheit für eine Stadtrundfahrt zu nutzen. Immerhin denke ich daran, mir ein Buch einzustecken, denn das hier gebräuchliche vite-fait kann sich gern schon mal ein paar Stunden hinziehen. Und auf Teju Cole habe ich mich sowieso schon gefreut. Außerdem können wir am Ende der Fahrt vielleicht beim Schuster vorbeifahren, denn gleich an meinem zweiten Tag hat sich die Sohle eines meiner Schuhe gelöst, als ich an einer Treppenstufe hängengeblieben bin. Das passiert mir hier jedes Mal, denn die Stufen sind hier nicht genormt und da passiert es leicht, dass ich an einer unregelmäßigen hängenbleibe. Es wird noch ein paar Tage dauern, bis meine sich meine Füße an die ungenormten Stufen anpassen.  


Unsere Fahrt beginnt damit, dass Khady feststellt, weder Papiere noch Geld bei sich zu haben und noch einmal nach Hause zurückfährt. Dann muss sie an einer Tankstelle halten, weil einer ihrer Reifen keine Luft mehr hat. Endlich lassen wir den Stau der Hauptstraße hinter uns und biegen in eine Straße in Mermoz ein. Hier wohnen die Toubabs, die Weißen. Ich verstehe, warum man hier wohnen will: Bäume spenden Schatten, Bougainvillen säumen richtige Straßen, nicht staubige Sandwege wie sie in Ouakam, dem Viertel, in dem ich bei Khady wohne, verbreitet sind.


„In einem der Häuser gibt es auf dem Dach einen Pool. Da würde ich gern wohnen“, sagt Khady. „Aber teuer ist es.“

Natürlich.  


Wir halten an einer Orange-Money-Hütte, an der Khady Geld abhebt, um es in der Bank einzuzahlen – die Zahlungssysteme Bank und Mobile Pay sind hier offenbar noch nicht kompatibel. Während ich am Auto warte, rollt ein Mann vom Dakarer Ordnungsamt auf einem Motorroller heran. Ich muss ihn davon abhalten, Khadys – widerrechtlich – geparktes Auto mit einer Kralle zu versehen. Lächelnd, aber unnachgiebig setzt er die Kralle schon mal an, als ich mich ans Steuer setze und ein Wegfahren andeute, indem ich immerhin den Motor starte. Dabei denke ich, dass ich jetzt alles noch schlimmer mache, denn mein Internationaler Führerschein liegt sicher zu Hause in Ouakam. Aber dem Mann vom Ordnungsamt reicht meine Geste des guten Willens und die Versicherung, dass die Besitzerin des Autos gleich wegfahren wird. Gutmütig winkt er ab und konzentriert sich auf einen anderen Falschparker.


Auf den Roman von Teju Cole kann ich mich erst an unserer nächsten Station konzentrieren, während Khady das Geld auf der Bank einzahlt. Die zuerst ins Auge gefasste hat eine zu lange Schlange und keine Parkplätze, diese hier hat wenigstens Parkplätze. Ich versichere Khady, dass ich mich nicht langweilen werde, und widme mich endlich Teju Cole.


In „Jeder Tag gehört dem Dieb“ kehrt der Held nach langer Abwesenheit nach Nigeria zurück. Zwölf Jahre hat er in den USA gelebt und dort ein anderes Leben, vor allem ein rechtsstaatliches, kennengelernt. Er schildert seine Ankunft in Lagos, wo er innerhalb einer Stunde dreimal mit der in Nigeria verbreiteten Korruption konfrontiert wird. Die emotionale Rückkehr in sein Heimatland wird von der Wut darauf überschattet. Im Laufe seiner Reise versteht er, dass das ständige Hand-Aufhalten überlebenswichtig ist. Das macht die Wut nicht kleiner, aber es gibt ihm ein anderes Verständnis dafür, das allerdings immer wieder auf die Probe gestellt wird.  


Ich habe etwa die Hälfte des 150 Seiten umfassenden Buches ausgelesen, als Khady aus der Bank zurückkommt und mich in den Senegal zurückkatapultiert, in dem ich selbst nur ein einziges Mal Zeugin von Korruption war – vor drei Jahren, als ich mit Khadys Bruder in einem Auto ohne Versicherung unterwegs war und ein Polizist seinen Führerschein einziehen wollte. Mit einem Geldschein in einem Gegenwert von vielleicht 20 € löste er das Problem damals. In Nigeria wäre das teurer gewesen. Oder gefährlicher, denn die allgegenwärtige Korruption führt dazu, dass auch Gewalt in dem Land ständig präsent ist. Gerade hatte ich über den Onkel des Helden gelesen, der bei einem Raubüberfall erschossen wurde. Nigeria, beschließe ich nicht zum ersten Mal, bleibt vorläufig auf meiner persönlichen Reisewarnliste. Ich will gern weitere afrikanische Länder kennenlernen, aber lebensmüde bin ich nicht - und über starke Aggressivität als Grundstimmung in Nigeria habe ich leider schon häufiger gehört.


Wir setzen unsere Fahrt fort, im Viertel Sacre Coeur hat Khady ihr Büro, das sie nur selten aufsucht, da sie ihre Geschäfte als Immobilienmaklerin weitgehend telefonisch abwickelt. Nur wenn sie Papiere braucht oder etwas drucken muss, fährt sie dorthin. Ihr Büro liegt an einer großen Straße, die derzeit ausgebaut wird, Schilder mit chinesischen Zeichen weisen auf die Investoren dieser Baumaßnahme hin. Einstöckige Häuser allein würde der Straße ein beschauliches Aussehen geben – wäre da nicht die Baustelle.  Boutiquen, Schönheitssalons, Reinigungen oder Restaurants befinden sich in den Erdgeschossen der Häuser und darüber vermutlich viele Büros wie das von Khady, zu dem wir zwischen Wäscherei und Boutique hinaufsteigen. Ein kleiner Raum mit zwei Schreibtischen und einem Sofa, auf dem ich mit Teju Cole weiter durch Nigeria reise, während Khady Papiere zusammensucht. Still ist es hier, auf der Baustelle wird gerade nicht gearbeitet und unerbittlich knallt die Mittagssonne auf die baumlose Straße. Die für Dakar ungewohnte Stille überrascht mich, doch als ich aus dem Fenster sehe, ist es so, wie es sich anhört: Da ist niemand. Nur einmal klappt eine Autotür und ein Mann trägt ein Paket in die Boutique.


Nach einer halben Stunde geht es weiter, Khady lässt mich noch einmal im Auto allein, als sie im Supermarkt einkaufen geht – Kartoffeln brauche sie noch, sagt sie und kommt mit Fanta und Keksen zurück. Die Kartoffeln haben ihr nicht gefallen und bei der Gelegenheit hat sie beschlossen, heute nicht zu kochen, sondern Essen zu bestellen. Sie verwirklicht ihre Idee sofort und bestellt telefonisch etwas, was sie mir später als typisch kongolesische Speise vorstellt: Reisknödel mit einer cremigen Soße aus Spinat und Ziegenfleisch.


Zurück geht es durch kleine, angenehme Straßen, in denen von frischen Anstrichen leuchtende Häusern eng stehen und Schatten spenden. Irgendwann sind wir wieder in Ouakam und ich bin überrascht, wie groß dieses Viertel ist, das erst vor etwa zehn Jahren angelegt wurde – was erklärt, warum hier so viel gebaut wird. Vor einem Wohnhaus halten wir und Khady ruft an, um zu sagen, dass wir da sind und das Essen abholen wollen. Es dauert noch etwa zehn Minuten, dann bekommen wir zwei Tüten ins Auto gereicht.  


Etwa vier Stunden waren wir für vite-fait unterwegs und haben dabei am Ende den Schuster vergessen. Nachdem wir gegessen haben und ich mich vergewissert habe, dass die Arbeit in meinem Laptop noch warten kann, mache ich mich noch einmal auf den Weg. Khady hatte eigentlich mitkommen wollen, um mir den Weg zu zeigen und aufzupassen, dass der Schuster keinen „Toubab-Preis“ berechnet. Sie hat aber keine Zeit, also schärft sie mir ein, dass die Reparatur nicht mehr als 500 CFA kosten darf.


Die erste Herausforderung ist es, den Schuster überhaupt zu finden, ich schlängle mich vorbei am Gewusel des Marktes mit Ständen voller Bananen, Melonen und Mandarinen, Zwiebeln und Tomaten, an Batterien von Plastiktöpfen und -schemeln, kitschigen Kissen und Cremetöpfen, von denen ich nur die Sheabutter kenne, die neben Kajalstiften und Räucherstäbchen angeboten wird. In der stillen Straße hinter dem Markt soll irgendwo der Schuster sein, doch die Geschäfte, die ihre Waren nicht auf der Straße stehen haben, tragen nur selten Schilder, auf denen steht, was sie im Innern anbieten – schließlich kennen die Einheimischen sich hier aus.


Immerhin gibt es ein Geschäft, das Schuhe verkauft, gut sichtbar auf einem Gitter präsentiert. Gebrauchte Schuhe, was hier üblich ist. Ein junger Mann in Jogginganzug und mit Sonnenbrille sitzt vor dem Geschäft und schrubbt ein paar – vermutlich aus Europa eingeführte – abgetragene Turnschuhe. Ist das der Schuster? Ich entscheide, dass Fragen ja auch hier nichts kostet, zeige ihm meine kaputte Sandale und frage, ob er sie reparieren kann. Er murmelt etwas, was ich als „Ja“ interpretiere, erst recht, nachdem er mir einen eleganten, aber unbequemen Metallstuhl zurechtgestellt hat, auf dem ich Platz nehme.


Sorgfältig sucht er in einem Plastiksack nach Klebstoff, reinigt den Schuh von alten Kleberesten, trägt den Leim auf und lässt ihn antrocknen. Während wir warten, bewundere ich die farbenfrohen Boubous der vorübergehenden Männer sowie die ebenso bunten Kleider und den stolzen Gang der jungen afrikanischen Frauen. Selbst wenn sie keine Schüssel mit Waren auf dem Kopf tragen, was hier sehr oft zu sehen ist, bewegen sie sich so, dass sie es jederzeit könnten. Im Alter verwandelt sich der elegante Gang oft in ein gebeugtes Schlurfen, in dem alle Lebensanstrengungen erkennbar sind – doch eine Schüssel mit mehreren Kilo Bananen oder Schmuck zum Verkauf können sie auch dann noch tragen.


Mehrfach wird der Schuster von Passanten angesprochen und auch wenn ich die Sprache der Einheimischen, Wolof, nicht verstehe, erkenne ich, dass hier ganz offensichtlich immer das Begrüßungsritual abläuft: „Wie geht‘s?“

„Gut, danke. Und selbst?“

„Danke, gut. Und mit der Familie alles gut?“

„Ja, alles gut. Und die Arbeit?“

„Gut, danke.“


Erst wenn die letzte Frage dieser ausführlichen Grußformel gestellt und – in Variationen – beantwortet ist, wendet sich der Passant wieder seinem Weg zu.


Endlich reicht mir der Schuster meinen Schuh. „C’est bon“, sagt er auf meine Frage, was ich ihm schuldig bin. Ich vermute ein Missverständnis und frage noch einmal.


„Si je dis c’est bon, c’est bon.“

Überrascht packe ich meine Sandale ein und verabschiede mich. „A la prochaine fois.“ Obwohl es nicht sein muss.


Ob das in Nigeria auch so passiert wäre?




Die Fotos zeigen alle Straßen im Dakarer Viertel Ouakam. Und in einem meiner nächsten Texte erzähle ich, warum auf meinen Bildern so wenig Menschen zu sehen sind, obwohl ich ja immer vom Gewühl in den Straßen erzähle.

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