Adane

Adane in einem Durchgang
von Dorrit Bartel 05 Jan., 2024
Heute, am 5. Januar, hätte Adane Geburtstagsglückwünsche entgegengenommen. Sowohl er als auch seine Gratulanten hätten gewusst, dass dieser Tag nicht sein Geburtstag war. Denn niemand weiß, wann er geboren wurde. Der Geburtstag ist einmal so festgelegt worden, in dem Internat der norwegischen Nonnen, in das er als Kind gesteckt wurde. Irgendwann hatte man dort die Kinder durchgezählt und die Geburtstage auf den entsprechenden Tag des Jahres festgelegt. Adane, so hat er es einmal erzählt, war einfach die Nummer fünf in der Reihe. Vielleicht ist es so oder ähnlich gewesen. Vielleicht hat er diese Geschichte aber auch nur so wiedergegeben, weil sie sich gut und einleuchtend anhört. Er war ein begnadeter Geschichtenerzähler und er hat die Geschichte(n) seines Lebens wieder und wieder erzählt, wenn er mit Touristen durch sein Heimatland fuhr und er sie auf stundenlangen Busfahrten bei Laune halten wollte. Sicher hat er hier und da an den Geschichten gefeilt, Szenen seines Lebens ein wenig verändert oder zugespitzt, Dinge weggelassen, die ihm unwichtig schienen oder in der Erinnerung unangenehm waren. Tun wir das nicht alle? Mir hat er die Langfassung seines Lebens erzählt. Ich besitze etwa fünfundzwanzig Stunden Tonaufnahmen, die aus dem Jahr 2018 stammen. Im Februar jenes Jahres war ich eine der Touristinnen im Bus und fragte ihn schließlich, ob ich einen Roman über sein Leben schreiben dürfe. Alle in der Reisegruppe waren fasziniert von seinem Leben, doch für mich kam ein weiterer Aspekt hinzu: Wir teilten ein Stück deutscher Vergangenheit. Doch während ich den allumfassenden gesellschaftlichen Umbruch nur einmal erlebt hatte, hatte er diese Erfahrung mehrfach machen müssen. Offenbar war er gut damit klargekommen, denn er war heiter und optimistisch, während meine ostdeutschen Landsleute zum Teil schon von dem einen Umbruch überfordert schienen. Ich wollte wissen: Wie hatte er das gemacht? Nachdem er meinem Vorschlag zustimmte, fuhr ich im Juni desselben Jahres noch einmal nach Äthiopien, um die Langversion eines Lebens zu hören, das für mindestens drei gereicht hätte. Etwa zwei Jahre habe ich gebraucht, um seine Geschichte in einen Roman zu verwandeln. „Ich habe dir zwei Jahre meines Lebens geschenkt“, habe ich bei späteren Telefonaten manchmal zu ihm gesagt. Er lachte dann und sagte, er habe sich den Roman ausgedruckt und lese gelegentlich darin. Das reiche ihm. Er teilte meine Frustration darüber nicht, dass es mir in den drei Jahren nach Vollendung des Romans nicht gelang, einen Verlag für seine Geschichte zu interessieren. Auch als ich versprach, den Roman 2024 endlich selbst herauszubringen, betonte er, dass es ihm nicht mehr darauf ankäme. Er war glücklich darüber, dass die Geschichte geschrieben war und ich ihn, wie er mir gestand, etwas besser dargestellt hatte, als er sich selbst empfand. Zwei Jahre lang habe ich seinen Lebensweg nachgezeichnet. Von der Savanne, wo er geboren wurde und seine ersten Lebensjahre verbrachte, über das Internat der norwegischen Nonnen, das ganz in der Nähe seines Heimatdorfes lag, auch wenn ihm das damals nicht bewusst war. Für ihn war es gewesen, als sei er aus seiner eigenen Welt verstoßen worden und in eine vollkommen andere geraten, ohne eigene Entscheidungsmöglichkeit. Sein Ehrgeiz brachte ihn zum Medizinstudium nach Addis Abeba und in die Wirren der Machtkämpfe nach der Absetzung Haile Selassies. Er arrangierte sich – nach einem Gefängnisaufenthalt nicht ganz freiwillig – mit den Machthabern um Haile Mariam Mengistu. Am Ende von Mengistus Herrschaft gut eineinhalb Jahrzehnte später kam er wieder ins Gefängnis. Dazwischen lagen: eine Karriere als Funktionär, ein Studium und eine Promotion in der DDR und, als diese sich auflöste, die Rückkehr nach Äthiopien als stellvertretender Kulturminister. Auch die äthiopische Variante des Sozialismus hielt sich nicht und es war ebenso zynisch wie folgerichtig, dass er wieder im Gefängnis landete. Nach der Entlassung schaffte er es zurück nach Deutschland und begann – wieder einmal – ein neues Leben. Er heiratete und bekam zwei Kinder. Wechselte ins Baufach, lernte sämtliche Baugewerke so gut, dass er selbst zum Ausbilder wurde. Nach einigen Jahren wagte er wieder, sein Heimatland zu besuchen und entschied sich schließlich sogar, ganz zurückzukehren. Er sah dort einen Auftrag für sich: Der nächsten Generation in seiner Familie Bildung ermöglichen. Das, so sagte er manchmal zu mir, sei das letzte, was er in seinem Leben noch erreichen wolle: Dass jedes seiner dreizehn Geschwister ein Kind mit einem Schulabschluss in der Familie hat. Als er diesen Auftrag für sich annahm, ahnte er nicht, wie schwer es werden würde. Einmal habe ich ihn gefragt, ob er manchmal bedauern würde, zurückgekehrt zu sein, denn in Deutschland hätte er doch ein bequemeres Leben haben können. Er verstand die Frage nicht. „Dies ist meine Heimat.“ Wir haben oft telefoniert. Bis Ende 2020 wegen des Buches. Danach, weil wir Freunde geworden waren. Ich wäre auch gern noch einmal in seine Heimat gereist, um ihn zu besuchen. Für Ende 2020 war der Flug bereits gebucht, als in Äthiopien wieder ein Bürgerkrieg ausbrach. Ich stornierte den Flug. und wir überarbeiteten das Buch kapitelweise telefonisch. Adane hatte Zeit, denn er hatte keine Arbeit. Die Pandemie war eine Katastrophe für den Tourismus gewesen, der Bürgerkrieg verschlimmerte die Lage zusätzlich und hat sich auch nach dem Waffenstillstand vom Dezember 2022 nicht entscheidend verbessert. Wenn ich ihn fragte, wann ich ihn besuchen könnte, vertröstete er mich immer wieder. Er wollte mich keiner Gefahr aussetzen. Adanes letzte Jahre waren von der Unsicherheit in Äthiopien geprägt. Ich beobachtete die Wandlung des Landes aus der Ferne. Bei meinem Besuch 2018 hatte hoffnungsvolle Aufbruchstimmung geherrscht: Abiy Ahmed schloss Frieden mit Eritrea und stieß weitere Reformen an. Er bekam dafür 2019 den Friedensnobelpreis und hielt bei der Preisverleihung eine berührende Rede gegen den Krieg. Doch offensichtlich hatte er keine nachhaltigen Antworten auf die Konflikte im eigenen Land, die über Jahrzehnte gewachsen waren und sich jetzt zuspitzten. Nicht nur einmal schlich sich langes Schweigen in meine Telefonate mit Adane, wenn er berichtete: Wie die Soldaten, die für die die Regierung Lebensmittel verteilten, einen Teil des Getreides für sich selbst beiseiteschafften. Wie er darunter litt, dass die Kinder nicht genug zu essen hatten. Wie er in einem Dorf nach einem Massaker mit über hundert Toten aufräumte. Wenn ich meine Sprache wiederfand und ihn fragte, ob ich etwas für ihn tun könne, antwortete er: „Du kannst nichts tun und du musst auch nichts tun. Es reicht, wenn ich mit dir darüber reden kann. Das tut mir gut.“ Er hielt sich und die Kinder über Wasser: Mit Tätigkeiten auf dem Bau, die allerdings weniger Einkommensquelle als Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen waren. Er gestand mir einmal, seine größte Angst sei, die Kinder zurück zu ihren Eltern in die Savanne bringen zu müssen, weil er sie nicht mehr versorgen könne. „Wenn ich das machen muss, gehe ich danach irgendwohin zum Sterben.“ Das Sterben spielte immer häufiger eine Rolle in unseren Gesprächen. „Um mich sorge ich mich nicht. Ich habe mein Leben gehabt. Aber die Kinder …“ Irgendwie ging es immer weiter. Mit Spenden aus Deutschland und von Nachbarn, von denen er sehr geschätzt wurde. Einmal brachten sie ihm zum Beispiel einen Sack Getreide, mit dem er die Kinder und sich für eine weitere Woche durchbrachte. Den Kindern im Ort sagten sie, sie sollten werden wie Adane – so erzählte es mir eine gemeinsame Bekannte, die ihm zuletzt noch häufig begegnet war. Adane war klug, warmherzig und großzügig. Zuletzt betrieb er eine Schreinerei. Für die hatten ebenfalls Freunde gespendet, und er war glücklich, arbeiten zu können. Er stellte Frauen ein, die oft verantwortungsbewusster waren als Männer, wissbegieriger, geschickter. So brachte er nicht nur „seine Kinder“ durch, sondern auch die der Frauen. Doch auch der Betrieb der Schreinerei war zuletzt immer schwieriger geworden, es gibt in Äthiopien kaum noch Material, keine Nägel, keine Schrauben, keinen Leim. Und keine Vorschüsse mehr, bei der fragilen Situation im Land war kein Auftraggeber sicher, ob die Arbeit fertiggestellt werden würde. Also kaufte Adane Holz auf eigenes Risiko. Irgendwie ging es weiter. Inzwischen schlossen einige „seiner Kinder“ eine Ausbildung oder ein Studium ab und verdienten selbst Geld. Sie unterstützten ihn und die Kinder, die noch keinen Abschluss haben. Er hätte noch drei, vier Jahre gebraucht, um sein Ziel zu erreichen. Es war ihm nicht vergönnt. Adane starb am 1. Dezember 2023, nachdem er sich am Morgen schlecht gefühlt hatte und ein Krankenhaus aufsuchte, in dem man nur noch zu hohen Puls und Blutdruck feststellen, aber nichts mehr für ihn tun konnte. Vielleicht war zuletzt doch alles zu viel für ihn gewesen. Sein Sohn Yitawok schreibt mir, dass er versuchen will, das Werk seines Vaters zu vollenden und auch den letzten der Kinder zu einem Schulabschluss zu verhelfen. Ich hoffe sehr, dass es ihm gelingt und will ihn dabei begleiten. 2018, in der hoffnungsvollen Zeit, als Adane und ich in Dire Dawa unsere langen Gespräche führten, hatten wir ein allabendliches Ritual. Nach dem Abendessen, das wir meist in der Kneipe eines Freundes zu uns nahmen, fuhren wir mit einem Tuk-Tuk durch die dunkle Stadt ins Hotel und tranken dort als Absacker einen Gin. Ich werde in meinem Leben nie wieder einen Gin trinken, ohne mich an den unglaublich weichen Geschmack äthiopischen Gins zu erinnern. Ich werde nie wieder Gin trinken, ohne mich daran zu erinnern, dass wir am Telefon oft darüber sprachen, irgendwann wieder zusammen Gin zu trinken. Ich werde nie wieder Gin trinken können, ohne an Adane zu denken und zu spüren, wie sehr er fehlt. Als jemand, der aus zwei Welten berichten und zwischen ihnen vermitteln konnte. Und als Freund.
von Dorrit Bartel 29 Dez., 2021
Nein, die gute Nachricht ist leider nicht, dass der Krieg in Äthiopien vorbei ist. Zwar hat sich die Rebellenarmee der TPLF zu Friedensverhandlungen bereiterklärt, was ein Fortschritt ist, aber ob Regierung und Rebellen sich einigen werden und wie lange es dauert … Und doch gibt es gute Nachrichten von Adane, der seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Touristenguide zuerst corona- und dann kriegsbedingt seit März 2020 nicht mehr ausüben kann. Er hielt sich und „seine“ Kinder mit Spenden aus Deutschland und schlechtbezahlten Jobs auf dem Bau über Wasser. Glücklicherweise haben die beiden ältesten „seiner“ Kinder inzwischen eine Ausbildung und ein Studium abgeschlossen und unterstützen ihn von ihrem Lohn. Und er selbst verdient auch wieder regelmäßig Geld. Wenn es gut läuft – was man in einem Land wie Äthiopien nie wissen kann – hat er gerade den letzten beruflichen Wechsel seines Lebens vollzogen. Mit Mitte sechzig. Als ich ihn am zweiten Weihnachtsfeiertag anrufe, ist er überrascht: „Ich versuche seit Tagen erfolglos, Freunde und Bekannte in Europa anzurufen, aber offenbar sind die Leitungen gekappt. Aber innerafrikanisch klappt es. Wow.“ Ich bin nämlich in Dakar, verbringe mein erstes afrikanisches Weihnachten und bin noch ganz begeistert davon, bei 25 Grad Außentemperatur um einen künstlichen Weihnachtsbaum zu tanzen und Let it snow mitzugrölen. Wir müssen beide darüber lachen, ehe Adane erzählt, dass er Weihnachten in diesem Jahr ausfallen lassen musste. Ohnehin ist das Weihnachtsfest in Äthiopien im Dezember immer sehr exotisch, denn das orthodoxe Weihnachtsfest ist dort erst am 7. Januar. Aber mit Gott hat Adane es nicht so. Und da er sich nach mehr als 20 Jahren, die er in Deutschland gelebt hat, als halber Deutscher fühlt, hat er jedes Jahr für „seine“ Kinder deutsche Weihnachten veranstaltet. Mit einem selbstgepflückten Baum (ich korrigiere diesen seltenen Fehler in seinem Deutsch nicht) und Geschenken. Im vergangenen Jahr war das Geschenk für jedes Kind ein Kugelschreiber, die er irgendwo als Werbegeschenke abgestaubt hatte. In diesem Jahr gab es nicht einmal das, denn er hatte kein Geld und auch keine Zeit, um irgendwo Werbegeschenke aufzutreiben. Denn alle Zeit und sein letztes Geld (zusammen mit Geld von deutschen Freunden) sind in eine Schreinerei geflossen, deren Teilhaber er seit neuestem ist. Ich hatte das alles nur am Rande verfolgt, weil ich zu sehr mit meiner Abreise nach und meiner Ankunft in Afrika beschäftigt war. Erst jetzt haben wir Zeit, ausführlich darüber zu sprechen. Der Vorbesitzer der Schreinerei ist im Krieg gefallen – einer von Tausenden. Seine Witwe wollte die Schreinerei für 10.000 Euro verkaufen, was Adanes Mittel weit überstiegen hätte. Also machte er ihr einen Vorschlag: Sie bekommt sofort 2000 Euro und bleibt Teilhaberin. Auf lange Sicht ist das für sie besser als eine einmalige Summe. Und nun ist Adane Teilhaber einer gutgehenden Schreinerei, die in der Vergangenheit vor allem für die Regierung gearbeitet hat. Und Adane hat selbst bereits einen Regierungsauftrag akquiriert. „Ich arbeite sechzehn Stunden am Tag“, sagt er und ich habe ihn lange nicht so glücklich gehört. „Ich dachte, Du bist der Chef und lässt arbeiten?“ „In acht Monaten etwa wird es vermutlich etwas besser. Ich habe nur einige der früheren Angestellten übernommen, die ich erst anlernen muss. Zum Teil haben sie vorher nur als Helfer gearbeitet und noch nie eine der Maschinen angefasst.“ Jetzt zahlt sich nicht nur Adanes deutsche Ausbildung auf dem Bau aus, sondern auch die Tatsache, dass er für die Philip Holzmann AG auch als Ausbilder gearbeitet hat. „Vor allem habe ich Frauen eingestellt. Ich wusste nicht, dass mich Kinder so rühren. Wenn eine Frau mit drei oder vier Kindern vor mir steht, die sie allein durchbringen muss, kann ich nicht nein sagen. Jetzt habe ich elf Frauen und sieben Männer als Angestellte.“ „Du bist also zuversichtlich, dass du genug Aufträge bekommen wirst?“ „Der Mann vom Bildungsministerium meinte, dass ich bestimmt die nächsten drei Jahre gut zu tun haben werde.“ „Weil im Krieg so viel zerstört wurde?“ „Ganz genau. Jetzt sorgt der Krieg, den ich so sehr hasse, dafür, dass ich Geld verdiene…“ Ich kann förmlich sehen, wie er darüber den Kopf schüttelt, nicht sicher, welches Gefühl überwiegt: Der Hass auf den Krieg oder die Erleichterung darüber, wieder arbeiten zu können. Die Pause zwischen uns ist die, die sich immer in unsere Gespräche schleicht, wenn das Thema zu komplex ist. Am Ende der Pause sagt Adane: „Ich wünschte, du könntest dich jetzt – nur für dreißig Minuten oder so – von Dakar hierher beamen, damit ich dir meine Werkstatt zeigen kann.“ „Vielleicht macht ihr ja wirklich Frieden. Dann kann ich Dich bald besuchen. So richtig, mit Flugzeug und für länger und so.“ „Das wünsche ich mir von ganzem Herzen.“ Dem schließe ich mich mit ganzem Herzen an: Möge das nächste Jahr Frieden für Äthiopien bringen. Foto: Adane an der Werkbank.
von Dorrit Bartel 05 Dez., 2021
Wohl ist mir nicht bei dem Gedanken, dass Adane jetzt im Kriegsgebiet Flüchtlingsunterkünfte baut, aber er hat keine Wahl. Unruhig warte ich auf Nachricht. Nach vier Tagen höre ich von ihm. „Die Pläne haben sich geändert. Ich gehe nach Djibouti.“ „Ist es dort sicher?“ Adane holt etwas weiter aus: Als er in Addis Abeba angekommen ist, von wo aus er mit achtzehn weiteren äthiopischen Bauarbeitern für das Internationale Rote Kreuz nach Dese fahren sollte, ist der Plan aus Sicherheitsgründen aufgegeben worden. Alle Bauarbeiter sind nach Hause geschickt worden. Sie sollen sich bereithalten, für bald, wenn die Lage sich verbessert hat. Der Schotte, der ihnen dies mitteilte, erzählte Adane auch, dass es noch ein anderes Problem gibt: Die Teile für die Fertighäuser, die an vier verschiedenen Standorten in Äthiopien errichtet werden sollen, liegen noch am Hafen in Djibouti. Aber: Es gibt niemanden, der die Ladung so aufteilen kann, dass die Teile korrekt auf alle vier Orte verteilt werden. Niemand kennt sich mit Fertighausbau aus. Adane zögert nicht eine Sekunde. „Ich kann das. Ihr kennt meine Referenzen und wisst, dass ich Ahnung vom Bau habe. Fertighäuser habe ich schon gebaut.“ In Singapur, aber das sagt er nicht, es würde nur verwirren: Ein Äthiopier mit deutschen Zeugnissen, der in Singapur Fertighäuser gebaut hat. Eine zu lange Geschichte für den Schotten, dessen Gesicht sich aufhellt. Zeichnet sich hier eine Lösung für sein Problem ab? Vor seinem nächsten Satz holt Adane tief Luft: „Für fünfhundert Euro pro Tag mache ich das.“ Ich sehe förmlich, wie der Schotte die Augen aufreißt. Eben noch sollte Adane für zwölf Euro am Tag Häuser bauen. Andererseits: Irgendjemand muss die Teile von Djibouti aus verteilen. Er muss das mit seinem Chef besprechen. Eine halbe Stunde später ist der Deal besiegelt. Adane bekommt zwei Tage für seinen Auftrag und tausend Euro. Dafür hätte er ein halbes Jahr arbeiten müssen. Als Adane mir das erzählt, ist er schon in Dire Dawa, etwa 150 Kilometer von der Grenze zu Djibouti entfernt; morgen fährt er dorthin. Sicher sei es, denn die Grenze zwischen Äthiopien und Djibouti ist gut bewacht – von beiden Seiten. Adane hat das Geld schon bekommen und vor allem auch seinen Status verbessert. Ein paar Tage zuvor noch ist er noch mit einem Sammelminibus von Dire Dawa nach Addis Abeba gefahren, jetzt ist er von Addis aus geflogen. Und man hat ihm nicht nur das Flugticket bezahlt, sondern auch einen Wagen mit Chauffeur geschickt, der ihn vom Flughafen ins Hotel gebracht hat – in eines der besten Häuser am Platz. „Und da hast du dir gleich eine Runde Kat gegönnt?“, frage ich, denn mir fällt auf, dass seine Sprache ein bisschen verlangsamt ist. So, wie ich es von den Männern in den nachmittäglichen Katrunden kenne, bei denen ich 2018 zu Gast war – ohne selbst zu kauen. Entrüstet verneint Adane. „Aber ich musste vorhin mit dem Schotten Whisky trinken. Zwei Single Black Label – und das, nachdem ich seit fast zwei Jahren nicht einen Tropfen Alkohol getrunken habe.“  Bevor wir uns verabschieden, bittet er mich ein bisschen kleinlaut: „Drück‘ mir die Daumen, dass ich das jetzt auch wirklich hinkriege.“ „Klar kriegst du das hin. Aber jetzt solltest du besser schlafen. Melde dich, wenn du zurück bist.“ Und während Adane in Dire Dawa hoffentlich gut schläft, freue ich mich darüber, dass ihn das Glück auch diesmal nicht verlassen hat. Es zieht sich durch sein ganzes Leben: Auf größte Verzweiflung folgt ein Glücksfall. Er hat nie aufgehört, darauf zu vertrauen. Ein paar Tage später meldet er, dass in Djibouti alles bestens gelaufen ist und der Schotte ihn gerade zu seinem Helden erklärt hat. Vielleicht verhilft er Adane sogar zu einer neuen beruflichen Perspektive. Die Finger einer Hand reichen nicht, um zu zählen, der wievielte Neustart in seinem Leben es wäre. Wann die Flüchtlingsunterkünfte gebaut werden, weiß im Moment niemand. Der Bürgerkrieg breitet sich immer weiter aus. Inzwischen haben die westlichen Botschaften ihre Staatsbürger aufgefordert, alle noch möglichen regulären Flüge zur Ausreise zu nutzen. Man rechnet damit, dass der Krieg auch in die Hauptstadt kommt. Und ich denke daran, wie naiv ich 2018 war, als ich mich von Adane verabschiedet habe. Er sagte damals: „Hoffentlich sehe ich dich wieder.“ „Klar“, sagte ich, „spätestens in zwei Jahren komme ich und wir sprechen über das Buch, das ich über dein Leben schreibe.“ In meiner Welt schien das so einfach. Zwar hat auch hier die Sicherheit durch Corona einen Knacks bekommen. Doch in Adanes Welt ist Corona das kleinere Übel, die Unsicherheiten waren schon immer größer. Wieder einmal frage ich mich, woher er immer wieder seinen Optimismus nimmt und die Kraft, weiterzumachen und auf den nächsten Glücksfall zu vertrauen.
von Dorrit Bartel 05 Dez., 2021
„Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“, begrüßt Adane mich am Telefon irgendwann Mitte November. Die gute Nachricht ist, dass er einen Job hat. Er wird – zusammen mit internationalen Kollegen vom Roten Kreuz und vom Roten Halbmond – Flüchtlingsunterkünfte in Dese bauen, einer Stadt in der vom Krieg betroffenen Provinz Amhara. Endlich wieder eigenes Geld verdienen. Und weil Adane einen Meisterbrief als Maurer/Fliesenleger aus Deutschland hat, wird er sogar zwölf Euro am Tag verdienen, für äthiopische Verhältnisse gutes Geld. Wobei man das mit dem guten Geld nur in Relation zu anderen Einkommen sehen darf, in einem Land, in dem z.B. Benzin teurer ist als in Deutschland, sind auch zwölf Euro pro Tag kein wirklich guter Verdienst. Die schlechte Nachricht ist, dass in Dese bei Kämpfen zwischen Rebellen und der äthiopischen Armee am Tag zuvor 480 Menschen umgekommen sind. Es ist kein Ort, an dem irgendjemand jetzt sein möchte. Auch Adane nicht, aber er hat keine Wahl. Denn beinahe zeitgleich mit dem Angebot bestätigte sich das Gerücht, das bereits seit Beginn des Sommers die Runde machte: Die Schulgebühren werden massiv erhöht. Die Staatskassen sind leer, und viele Lehrer sind in den Krieg gezogen. Die Schulgebühren sollen den Städten und Gemeinden die Möglichkeit geben, neue Lehrer einzustellen. Immerhin sei das für ein ganzes Jahr, sagt Adane. Den wütenden Eltern, die nach dieser Meldung im ganzen Land protestierten, versprach Ministerpräsident Abiy Ahmed, es sei das letzte Mal, dass die Eltern überhaupt Schulgebühren zahlen müssten, solange er und seine Partei an der Macht bleiben. „Rechnet Abiy damit, nicht mehr lange an der Macht zu bleiben?“, frage ich sarkastisch. Adane lässt meine Bemerkung unkommentiert. Ihn kostet die Entscheidung zweihundert Euro, denn er schickt zehn Kinder zur Schule. Ich sage ihm zu, mein Versprechen vom Anfang des Sommers einzulösen und das Schulgeld aufzutreiben. Wenigstens kann ich etwas tun, was mich davon ablenkt, wie traurig mich das alles macht. Ich habe Äthiopien 2018 als ein freundliches Land kennengelernt, dessen Bewohner hoffnungsvoll in eine Zukunft blickten, die sie selbst gestalten wollten. Große Hoffnungen ruhten auf Abiy Ahmed, der nun eine von zwei Kriegsparteien anführt. In einem Krieg, in dem es für viele Äthiopier nur noch ums Überleben geht. Wir telefonieren am nächsten Tag erneut, inzwischen hat meine Mutter freundlicherweise das Schulgeld für Adane und die Kinder zur Verfügung gestellt. Dafür hat sich die Situation in Dese verschlechtert: In der Nacht sind alle internationalen Arbeiter evakuiert und nach Addis Abeba gebracht worden. Die äthiopischen Arbeiter werden also allein die Flüchtlingsunterkünfte bauen. „Das bedeutet natürlich, dass ihr nicht mehr so gut geschützt seid.“ „Ganz genau. Ich habe mein Testament gemacht. Damit die Kinder dann wenigstens das Haus haben, das ich für alle gebaut habe. Und das Geld, das ich jetzt verdiene.“ Ich schweige. Was soll ich darauf schon antworten? Was soll aus den Kindern werden, wenn Adane nicht mehr ist? Als hätte er meine Gedanken erraten, sagt er: „Wenn ich es bloß so lange schaffe, bis alle Kinder wenigstens einen Zehnte-Klasse-Abschluss haben. Damit können sie einen Job finden. Es ist das Einzige, was ich noch erreichen muss.“ „Das wirst du“, sage ich mit dem schwachen Versuch, überzeugend zu klingen. Offensichtlich gelingt das nicht wirklich gut, denn Adane sagt: „Mach dir keine Sorgen. Es wird alles gut gehen.“ Dann zählt er auf, was man ihnen versprochen hat: „W-LAN. Ich kann dich also anrufen. Einzelunterkünfte. Wir Äthiopier bekommen normalerweise Mehrbettzimmer, aber das wollen die internationalen Arbeiter nicht. Die sind jetzt weg und also sind die Zimmer frei. Wie es mit Essen aussieht, weiß ich nicht. Ich nehme Gerste mit.“ Gerste, das habe ich von Adane gelernt, ist sehr proteinhaltig und außerdem gut verfügbar, deshalb bietet sie sich an für die Verpflegung unterwegs. Man kann verschiedene Gerichte daraus bereiten, am einfachsten ist Brei. Auf der letzten Baustelle, auf der Adane gearbeitet hat, hat er wochenlang Gerstenbrei gegessen, weil es nichts anderes gab. Eine Frage muss ich noch stellen: „Haben die Kinder meine Kontaktdaten?“ „Sie haben alles. Wenn ich tot bin, werden sie sich bei dir melden.“ Ich verkneife mir den Satz, der mir auf der Zunge liegt: So habe ich es nicht gemeint. Denn ich habe es so gemeint und wir wissen es beide. So sage ich nur wie immer: „Lass von dir hören.“ Und füge hinzu: „Pass auf dich auf.“ „Das mache ich.“ Hoffentlich wird das reichen.
von Dorrit Bartel 28 Nov., 2021
Im späten Oktober telefoniere ich mit Adane, als er gerade die Rückkehr der Kinder nach Hause und in die Schule vorbereitet. Dafür braucht er einen Minibus. Den zu besorgen, ist im kriegsgezeichneten Äthiopien eine Herausforderung. Die Benzinpreise sind in den letzten Monaten um ein Vielfaches gestiegen, sie sind inzwischen höher als in Deutschland. Glücklicherweise hat Adane einen reichen Bruder, der ihn unterstützt. Die Organisation der Rückreise wird noch dadurch erschwert, dass die Kinder in Kenia nicht – wie von Adane gewünscht – zusammen an einem Ort geblieben sind. Jedes Mädchen hat einen anderen Blutsverwandten besucht und nun muss Adane die Information über die Rückreise an viele Orte in der kenianischen Savanne bringen. Nicht überall gibt es Telefone, so dass manchmal auch die „Post auf zwei Beinen“ entsandt werden muss. Insgesamt aber ist Adane optimistisch, rechtzeitig zu Schulbeginn mit den Kindern wieder in Chelenko zu sein. „Schick Fotos“, bitte ich ihn noch, denn ich möchte meine Texte im Blog gern bebildern. Fotos bekomme ich nicht, denn als Adane eine Woche später anruft, ist er froh, dass er nun mit allen Kindern heil in Yabello, einer Stadt im Süden Äthiopiens, angekommen ist. Es hatte nämlich viele Meldungen über Überfälle in der Savanne gegeben, so dass er sich entschloss, einen anderen Weg nach Yabello zu nehmen, der einen Umweg von etwa 80 Kilometern bedeutete. Wegen dieses Umwegs konnten die Kinder nicht noch einmal bei ihren Eltern in der Savanne vorbeifahren, um sich zu verabschieden. Es schien einfach zu gefährlich. „Morgen früh um drei Uhr fahren wir los nach Chelenko“, sagt Adane. „Dürft ihr nachts überhaupt fahren?“ Mit der Meldung über den jetzt im ganzen Land herrschenden Ausnahmezustand hat es Äthiopien dieser Tage mal wieder in die deutschen Hauptnachrichten geschafft. „Ja, das ist erlaubt. Es gibt nur dauernd Kontrollen auf Waffen. Aber die machen uns nichts aus, denn wir haben ja nichts. Und dann sind wir morgen Abend oder allerspätestens übermorgen Vormittag in Chelenko.“ „So schnell? Es sind doch bestimmt 800 Kilometer?“ „Der Fahrer ist schnell.“ Ich zweifle still, denn ich erinnere mich noch gut an eine knapp zwölfstündige Autofahrt von Addis Abeba nach Bahir Dar. Fünfhundert Kilometer über holprige äthiopische Straßen. Dabei war das schon eine ziemlich neue Straße, die allerdings schon wenige Jahre nach ihrer Errichtung tiefe Bodenwellen auswies. So schlecht bauen die Chinesen in Afrika, hatte ich damals gehört. Aber ich möchte nicht die Besserwisser-Weiße sein und bitte Adane nur noch einmal um Fotos. Er verspricht, mir welche zu schicken. Überrascht bin ich nicht, als Adane erst drei Tage später meldet, dass die Kinder in Chelenko angekommen sind. „Du warst wohl doch etwas zu optimistisch.“ Das kann ich mir nicht verkneifen. „Afrikanisch eben“, sagt Adane und ich bin nicht sicher, ob er seinen Optimismus oder die lange Fahrt meint. Dann gesteht er mir, dass ich leider keine Fotos bekommen kann, denn er hat sein Telefon unterwegs bei einem Überfall eingebüßt. Irgendwo auf der Strecke waren sie von maskierten, bewaffneten Männern angehalten und zur Herausgabe ihrer Wertsachen gezwungen worden. Bei Adane selbst gab es nur das Telefon zu holen, bei dem Fahrer leider das ganze Geld, das Adane ihm vor der Fahrt bezahlt hatte. „Zum Glück hatte ich ihn vorher bezahlt. Er hat mir sehr leidgetan, aber ich habe kein Geld, um ihn noch einmal zu bezahlen.“ Der Fahrer meinte übrigens, an den Stiefeln der Räuber erkannt zu haben, dass es sich um Soldaten der äthiopischen Armee und nicht sonst üblichen Banden gehandelt hätte. Immerhin waren sie so freundlich, den Beraubten ihre SIM-Karten zu überlassen. „Vermutlich, damit wir die Telefone nicht orten können.“ Die Fotos hatte Adane auf dem Telefon gespeichert, aber inzwischen sind mir die Fotos egal, ich bin froh, dass nichts Schlimmeres passiert ist. Adane selbst hat den Überfall ebenfalls gedanklich abgehakt, er muss sich um die Anmeldung der Kinder in der Schule kümmern und darum, endlich wieder Geld zu verdienen. Vielleicht bekommt er einen Auftrag vom Internationalen Roten Kreuz, das an den Rändern der Kriegsgebiete in den Provinzen Amhara und Tigray Flüchtlingsunterkünfte bauen will. Er ist mit einem Chef der Organisation in Verhandlung. Vielleicht zahlt es sich jetzt noch einmal aus, dass Adane in Deutschland sowohl Gesellen- als auch Meisterbrief auf dem Bau erworben hat. Am Nachmittag bekomme ich dann doch noch ein Foto – in schlechter Auflösung, aber immerhin – von einigen der Mädchen: Erholt, wieder zu Hause und voller Vorfreude darauf, wieder zur Schule gehen zu können.
von Dorrit Bartel 16 Nov., 2021
Die nächste Nachricht von Adane erreicht mich im September via Messenger: Die Familie will weiter nach Kenia ziehen. Die Rebellen sind in Bule Hora, etwa 80 km entfernt. So greift der Krieg noch weiter in den Alltag von Adane ein. Bislang hatte ich den Eindruck, dass er und die Kinder wenig betroffen waren, wenn man von der Lebensmittelknappheit und -verteuerung absieht und von der allgemeinen Unsicherheit über die Zukunft. Noch dazu hatte ich bislang vermutet oder gehofft, dass der Krieg nur im Norden stattfindet, in Tigray und den angrenzenden Provinzen. Meldungen über das Aufflammen der Gewalt im ganzen Land hatte ich nicht in mein Bewusstsein dringen lassen. Und natürlich hatte ich auch immer gedacht, Adane und den Kindern könne nichts passieren. So wie Unfälle auch nicht mir, sondern nur anderen geschehen. Nun also doch. Ein Telefonat mit Adane bringt neue Informationen. Er sagt, die Rebellen morden und vergewaltigen. Es seien von der TPLF (Volksbefreiungsfront von Tigray) gekaufte Söldner, die das ganze Land destabilisieren sollen. Solche Informationen sind mit Vorsicht zu genießen, denn Adane sagt selbst, dass die Situation oft viel zu unübersichtlich für genaue Einschätzungen ist. Im Moment zählt nur: Alle jungfräulichen Mädchen müssen über die grüne Grenze nach Kenia in Sicherheit gebracht werden. Adane ist mit einem Bruder dabei, einen Minibus aufzutreiben. Für „seine“ Mädchen. „Früher waren die Kinder es gewohnt, viele Kilometer zu Fuß zu gehen, das sind sie heute nicht mehr.“ Nein, das ist nicht die ewige Klage über die heutige Jugend, sondern eine Feststellung. Die anderen Mädchen der Familie werden die etwa 85 Kilometer zu Fuß gehen und vier Tage später die Verwandten in Kenia erreichen, die sie aufnehmen. Boranafamilien sind groß und ziehen von Ort zu Ort, die Grenzen waren für sie immer durchlässig im Dreiländereck Äthiopien, Kenia, Somalia. Adanes Stimme klingt optimistisch, die Sorge liegt schon hinter ihm, jetzt geht es darum, eine Lösung zu finden. Tätig zu sein, macht optimistisch. Während ich rat- und hilflos frage, ob ich etwas für ihn und die Kinder tun kann. „Du kannst nichts tun und du musst auch nichts tun. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden.“  Ich denke: Hoffentlich. Und begebe mich zurück in meine Rolle der Biografin. Ich habe über Adanes Leben einen Roman geschrieben und im Lauf der Arbeit haben wir uns angefreundet. Zwei Jahre habe ich damit zugebracht, Adanes Weg von der Savanne in die DDR, zurück nach Äthiopien, in die BRD und schließlich endgültig zurück in das Land seiner Geburt nachzuzeichnen und die Umstände, die zu dem jeweiligen Weg führten, zu schildern. Krieg war immer wieder Bestandteil seines Lebens und seiner Geschichte, doch als wir uns kennenlernten, fühlte es sich an, als seien diese Zeiten vorbei. Immerhin wurde dem heutigen Premierminister Abiy Ahmed 2019 der Friedensnobelpreis verliehen und er hielt zur Preisverleihung eine berührende Rede gegen Krieg. Ich habe den Roman über Adanes Leben im festen Glauben geschrieben, dass sie auch etwas über uns Europäer erzählt, dass es für uns wichtig ist, seine – exemplarische – Geschichte zu kennen. Jetzt ist der Roman abgeschlossen, doch Adanes Erzählungen aus seinem Leben und Alltag sollen noch immer gehört werden. Ich sehe mich in der Pflicht, Geschichten aus Afrika nach Europa zu bringen. Ja, manchmal treibe ich auch Geld auf, wenn etwa Salam, eines der älteren Mädchen, ein Stipendium für ein Studium in Riad bekommt, für ihre Flugkosten aber selbst aufkommen soll. Weil Adane wegen Corona monatelang nicht arbeiten konnte, habe ich Geld von meinen Freunden und Kollegen sowie Adanes ehemaligen Gästen gesammelt. Aber in der Hauptsache bin ich Schriftstellerin, die gemeinsam mit ihm afrikanisches Leben erzählt. Also wünsche ich der Mission „Ferien in Kenia“ Erfolg und bitte Adane, sich bei mir zu melden, wenn die Kinder in Sicherheit sind. Es dauert fast zwei Wochen, ehe ich wieder von Adane höre. In der Savanne gibt es nicht überall Internet. Die Kinder haben morgens aus Kenia angerufen, wo sie von ihrem Verwandten aufgenommen worden sind. Vermutlich ist das ein Großonkel – ich habe es aufgegeben, die weitverzweigten Verwandtschaftsbeziehungen begreifen zu wollen, die sich schon in Adanes Fall ergeben, weil sein Vater – wie bei den Boranas üblich – drei Frauen hatte und mit jeder von ihnen etwa ein Dutzend Kinder, die sich alle als Geschwister verstehen, die Worte Halbbruder oder Halbschwester existieren in ihrer Sprache nicht. Wie könnte ich die Verzweigungen von zwei weiteren Generationen nachvollziehen? Dieser kenianische Großonkel also betreibt nicht nur Viehzucht, sondern auch Landwirtschaft. Doch immer wieder ist die Ernte bedroht, von Dürre, von Heuschrecken oder – in diesem Jahr – von Pavianen, die ihren Hunger auf seinen Feldern stillen. Die Kinder haben sich mit Freuden in die Rolle der Pavianvertreiber eingefunden und sagen zu Adane, sie erlebten die besten Ferien ihres Lebens. Niemand spricht von den Gründen, warum sie überhaupt nach Kenia gegangen sind. „Aber irgendwann müsst ihr alle doch wieder nach Hause, denn die Kinder müssen doch wieder in die Schule.“ An Adanes Pause erkenne ich, dass er so weit noch nicht denkt. „Das wird klappen.“ Ich spüre, wie sehr ich diese Gelassenheit vermisse, die ich bei jeder meiner Afrikareisen neu lerne. Es kommt darauf an, sich um das Nächstliegende zu kümmern. Einen Schritt nach dem anderen zu tun und die Sorgen aufzuschieben, bis sie das Nächstliegende geworden sind. Dann finden sich Lösungen, davon ist Adane überzeugt. Und nicht nur er, die meisten Afrikaner, die ich kenne, überraschen mich immer wieder mit ihrem Grundoptimismus. So bleibe ich neugierig darauf, wie die Kinder zurück nach Hause kommen und wann sie wieder zur Schule gehen. Und beneide sie ein kleines bisschen um die Ferien in der afrikanischen Savanne, um die Gesellschaft von Pavianen und um die Geschichten am nächtlichen Feuer.
von Dorrit Bartel 12 Nov., 2021
Ende Juli ruft mich mein Freund Adane aus Äthiopien an. An seiner Stimme höre ich, wie stolz er ist: Alle seine Kinder haben das vergangene Schuljahr mit besten Zeugnissen abgeschlossen. Zu Adane und seinen Kindern muss man wissen, dass sie erstens nicht seine leiblichen Kinder und zweitens auch keine Kinder mehr sind.
von 42er 23 Feb., 2019
Für das Abendessen war die Auswahl nicht groß. Uns lag nicht daran, möglichst viel auszuprobieren. Wir waren pragmatisch und wollten keine Zeit mit langer Suche verlieren. Direkt vor unserem Hotel gab es einen Schlachter, in dessen Küche ein frisch geschlachtetes Rind hing. Erst wenn Fleisch bestellt wurde, schnitt der Schlachter von diesem etwas ab. Hier […]
von 42er 19 Feb., 2019
Die ersten Tage meiner Reise standen ganz im Zeichen von Nachrichten und Politik. Schon in Addis Abeba hatte Adane mich mit den Worten begrüßt: „Wir machen Frieden mit Eritrea, kannst du dir das vorstellen?!“ Es waren die ersten Monate der Amtszeit von Ministerpräsident Abiy Ahmed, der von der Bevölkerung sehr verehrt wird, denn er hat […]
von 42er 16 Feb., 2019
In den Schreibratgebern heißt es: Führen Sie doch mal ein Interview mit ihrem Protagonisten! Also begab ich mich im letzten Sommer mit einem Diktiergerät bewaffnet nach Äthiopien, um den Helden meiner geplanten Romanbiografie zu befragen, einen Mann, der in Äthiopien geboren wurde, aber etwa ein Drittel seines Lebens in Deutschland verbrachte und manchmal nicht mehr […]
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